Wo fängt Europa an, wo hört Europa auf?

Wenn das gemeinschaftlich organisierte Europa gemeint ist, wovon auch in weiterer Folge ausgegangen wird, dann beginnt dieses in Portugal, verläuft über Irland, Nordirland und Schottland, vorbei an England und Wales, und sodann über Frankreich bis Polen. Richard Coudenhove-Kalergi hatte in seinem Buch „Paneuropa“ von 1923 diese Konstellation bereits 80 Jahre vor ihrer Verwirklichung visionär vorausgesehen, d.h. dass es ein Europa von Portugal bis Polen mit 27 Mitgliedstaaten sein wird. So klar und einfach war das für ihn! Ein Europa von Vancouver bis Wladiwostock scheint ausgehend vom Wunsch einer Rechts- und Vertragsgemeinschaft hingegen sehr übertrieben.

Europa ohne Italien wäre ...

ärmer an einem Gründungsmitglied der Gemeinschaften und der Union, das tendenziell sehr lange proeuropäisch ausgerichtet war (De Gasperi, Einaudi, Colombo, Spinelli oder Prodi mögen als Beispiele dienen). Die EU von heute wäre aber ohne Italien auch ärmer an postmodernem Bonapartismus und modernem Populismus angefangen von Mussolini und seinen agitorisch-demagogischen Nachfolgern aller Couleur von Almirante, Bossi und Berlusconi bis Grillo.

Europa ohne Deutschland wäre ...

ohne ein zentrales Gründungsmitglied und ohne das es die Gemeinschaften in ihrer historischen Entwicklung so gar nicht gegeben hätte und geben würde. Es gilt der kategorische Integrationsimperativ für Deutschland (Copyright Michael Gehler) und auch alle anderen Mitglieder: „Handle jeweils so, dass Dein Verhalten in Europa zu einer allgemeingültigen gemeinschaftlichen Gesetzgebung werden kann.“ (Zitat Michael Gehler)

Wo in Europa möchten Sie leben?

In allen Ländern, in denen das Gemeinschaftsrecht und die europäischen Werte eingehalten werden – sicher nicht in Weißrussland.

Mehr als nur ein Raum ohne Binnengrenzen?

☒ Ja, weil es eben mehr ist als das, nämlich auch eine Rechts- und Wertegemeinschaft

☐ Nein, weil ...
             
☒ Vielleicht, weil es der attraktivste und lebenswerteste Raum der Welt ist

Was sind die größten Stärken der Europäischen Union?

1. Die Wahrung der Balance zwischen Groß-, Mittel- und Kleinstaaten

2. Entscheidungen auf dem Wege des Interessenausgleichs und des Kompromisses

3. Friedliche Konfliktlösungen

In welchem Bereich wünschen Sie sich mehr, in welchem weniger Europa?

Mehr Europa in Fragen der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik; mehr Europa für die Förderung geisteswissenschaftlicher Forschungen und vor allem mehr Europa für die Förderung von Übersetzungen von europäisch ausgerichteten Werken, die besserem Kennenlernen, Miteinander und Verständnis dienen würden. Weniger Europa wäre weniger Bürokratie und Verordnungen, deren Regelungsbedarf auf anderen Ebenen bereits erfüllt wird, sprich mehr Subsidiarität.

Was würden Sie als erstes tun, wenn Sie EU-Kommissionspräsident*in wären?

a) Die Forderung nach Direktwahl meines Amtes,

b) die Reduzierung der Kommissare und damit der Verwaltung als Beitrag zu mehr Transparenz und

c) die Profilierung der Kommission als zukünftige europäische Regierung und als letztes - wenn noch Zeit bleibt - die Vernachlässigung der unsinnigen „*innen“-Verordnungen europaweit, weil das keine Priorität hat!

Was verabscheuen Sie in der Europapolitik am meisten?

Die sattsam bekannte nationale Europapolitik, die Brüssel gegen staatliche Interessen auszuspielen versucht.

Stellen Sie sich vor, Sie sind US-Präsident*in: Was erwarten Sie von Europa?

Ich kann das nicht – außer ich sollte unter Größenwahn zu leiden beginnen - und schon gar nicht mit Sternchen! Wenn dann: ein weit mehr geschlossenes Auftreten der EU-Mitglieder und das Sprechen der EU mit einer Stimme (also kein Sofagate!) würde ich mir erwarten; nicht erwarten würde ich mir eine völlig eigenständige Außen- und Sicherheitspolitik – das wollten und würden US-Präsidenten eigentlich auch gar nie wollen.

Welche Europäerin oder welchen Europäer möchten Sie gerne persönlich kennenlernen?

Als Historiker würde ich gerne Jean Monnet kennenlernen, wenn er noch leben würde. Sodann würde ich ihn fragen, für welchen Politiker er heute Souffleur spielen würde. Ich denke, er dächte an Emmanuel Macron, den einzigen Staatsmann mit europäischem Format, der in den letzten fünf Jahren konkrete Reformvorschläge für die EU unterbreitet hat – ansonsten war nur betretenes, beredtes oder beschämendes Schweigen unter den Staats- und Regierungschefs zu beobachten, eingeschlossen jene aus Deutschland und Italien.

Ihr Vorschlag für ein Leitmotiv für die Europäische Union der Zukunft?

Ein Europa des Zusammenhalts, das vor Bedrohungen und Gegnern von außen wie von innen schützt. Das war das (leider gar nicht so ernstgemeinte und vollständig durchgehaltene!) Motto der österreichischen Ratspräsidentschaft von 2018. Siehe dazu als Zusatzinfo auch den ÖGfEP-Policy Brief vom 22.4.2021.

Welches Kunstwerk von europäischer Bedeutung fällt Ihnen spontan ein?

Das Gemälde vom Turmbau zu Babel von Pieter Bruegel dem Älteren.

Ihr Vorschlag für eine Erkennungsmelodie der Europäischen Union?

Die 5. Symphonie von Ludwig van Beethoven – es geht um das Schicksal Europas, das noch immer nicht allen Europäerinnen und Europäern klar genug vor Augen ist – es braucht, wenigstens zeitweise, einen „Wake up call“.

Ohne die folgenden drei Dinge wäre Europa für mich nicht Europa:

1. Die Vier Freiheiten

2. Der gemeinsame Währungsraum

3. Die Werte der Rechts- und Vertragsgemeinschaft