07. Oktober 2025 um 11 UhrHamburg-Vigoni Forum startet Arbeiten am Handbook on European ExceptionalismEin ambitioniertes Projekt vereint mehr als dreißig Wissenschaftler*innen aus aller Welt, um Europas Einzigartigkeit durch die Kategorien Raum, Souveränität und Identität zu untersuchen.
7. Oktober 2025

Foto: Villa Vigoni
Das Hamburg-Vigoni Forum hat ein neues, ambitioniertes wissenschaftliches Vorhaben gestartet: Die Erarbeitung eines umfassenden Handbuchs zum Thema „European Exceptionalism“. Ziel des Projekts ist es, eine fundierte, kritische und interdisziplinäre Analyse dessen zu liefern, was Europa und die Europäische Union in Geschichte und Politik einzigartig macht.
Das Handbuch enthält Artikel von mehr als dreißig Forscher*innen – etablierte Expert*innen ebenso wie jüngere Stimmen – aus allen Kontinenten. Diese Vielfalt an Perspektiven stellt sicher, dass die Auseinandersetzung mit dem europäischen Exzeptionalismus nicht auf Europa beschränkt bleibt, sondern auch externe Sichtweisen und Kritiken aus anderen Weltregionen einbezieht. Die Diversität der Beteiligten spiegelt die grundlegende Überzeugung des Projekts wider: Europas Anspruch auf Einzigartigkeit muss nicht nur von innen, sondern auch mit Blick von außen geprüft werden – von jenen, die Europas Einfluss erfahren, hinterfragt oder zurückgewiesen haben.
Die Initiative ist fest verankert in der intellektuellen Tradition des Hamburg-Vigoni Forums. Das Forum hat stets den interdisziplinären und internationalen Dialog gefördert und konzentriert sich auf die Konzepte Raum, Souveränität und Identität. Diese drei Säulen bilden nun den strukturellen Rahmen für das Handbuch.
Das Thema „European Exceptionalism“ lösst seit vielen Jahren wiederkehrende Debatten aus. Einerseits wird Europa häufig als Wiege der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Menschenrechte, der Sozialstaatlichkeit und der regionalen Integration dargestellt. Diese Errungenschaften stützen die Erzählung eines Kontinents, der der Welt Modelle für Frieden und Kooperation geliefert hat. Andererseits ist Europas Geschichte auch von dunklen Kapiteln gezeichnet: imperialer Eroberung, kolonialer Ausbeutung, ausschließendem Nationalismus, autoritären Rückschritten und tiefen sozialen Ungleichheiten. Das Handbuch will diese Widersprüche nicht auflösen, sondern sie sichtbar machen und analysieren – und so ein ausgewogenes Bild zeichnen, das sowohl Leistungen als auch Verfehlungen berücksichtigt.
Die interdisziplinäre Ausrichtung ist eine der größten Stärken des Projekts. Philosoph*innen, Jurist*innen, Politikwissenschaftler*innen und Historiker*innen treten in einen gemeinsamen Dialog und verbinden normative, institutionelle und historische Perspektiven miteinander. Dieser Ansatz ist entscheidend, um zu verstehen, wie die Idee des Exzeptionalismus im Laufe der Zeit konstruiert, bestritten und verändert wurde. So werden juristische Beiträge untersuchen, wie das Recht der Europäischen Union Ansprüche auf Einzigartigkeit verkörpert – oder zurückweist –, während historische Beiträge Europas sich wandelnde globale Rolle nachzeichnen und philosophische Texte die normativen Dimensionen von Identität, Gerechtigkeit und Macht reflektieren.
Ebenso bedeutsam ist der globale Dialog, zu dem sich das Handbuch bekennt. Wissenschaftler*innen aus Afrika, Asien, Amerika und Ozeanien bringen Perspektiven ein, die eurozentrische Narrative herausfordern und die externen Wirkungen europäischer Politik beleuchten. Auf diese Weise regt das Projekt dazu an, die Stellung Europas in der Weltordnung neu zu überdenken – gängige Annahmen von Überlegenheit infrage zu stellen, ohne genuine Innovationen zu übersehen.
Das Handbuch wird in thematische Sektionen gegliedert sein, die sich an den drei Leitbegriffen des Forums orientieren. Unter dem Stichwort „Raum“ reflektieren Beiträge Europa als geografischen, politischen und imaginierten Raum – sowohl mit Blick auf interne Spaltungen als auch auf externe Grenzen. Im Abschnitt „Souveränität“ geht es um die besonderen Entwicklungen von Staatlichkeit, Governance und supranationaler Autorität in Europa und darum, wie sich Souveränität im Kontext von Integration und Globalisierung verändert hat. Schließlich widmet sich der Teil zu „Identität“ den kulturellen, symbolischen und normativen Dimensionen europäischer Selbstdeutungen, einschließlich feministischer, postkolonialer und kritischer Perspektiven, die auf Ausschlüsse und Leerstellen in dominanten Narrativen aufmerksam machen.
Mit diesem Rahmen will das Handbuch keine Feier europäischer Besonderheiten bieten, sondern zu einer kritischen und differenzierten Reflexion anregen: Ist Europa tatsächlich außergewöhnlich? Und wenn ja, in welcher Hinsicht – und zu welchem Preis? Diese Fragen werden die Autor*innen leiten, wenn sie sowohl die hellen als auch die dunklen Seiten der europäischen Geschichte kartieren.
Das Handbook on European Exceptionalism soll zu einem zentralen Referenzwerk für Wissenschaft, Politik und eine breitere Öffentlichkeit werden, die sich für Europas Rolle interessiert. Indem es interdisziplinäre Expertise mit globalen Perspektiven verbindet und sich auf die drei Leitkategorien Raum, Souveränität und Identität stützt, will das Projekt unser Verständnis von Europa vertiefen – nicht als isolierte Einheit, sondern als komplexen Akteur, eingebettet in ein Geflecht von wechselseitigen Abhängigkeiten und Konflikten.


