31. Mai 2024 um 18 UhrEuropa vor der Wahl: Zwischen nationalen und europäischen IdentitätenVortrag von Janusz Reiter mit anschließender Podiumsdiskussion
31. Mai 2024
Foto: UHH / Hoehne
Am 31. Mai 2024 sprach der ehemalige polnische Botschafter in Deutschland und den USA, Janusz Reiter, über die Rolle von nationalen und europäischen Identitäten im Rahmen der Europawahl. Die Veranstaltung fand im Übersee-Club Hamburg statt und wurde von insgesamt 80 europapolitisch interessierten Teilnehmenden verfolgt.
Reiter eröffnete den Vortrag mit einem kurzen Überblick über den historischen Kontext Polens, wobei er den langjährigen Traum der Nation von der Unabhängigkeit, der oft in einer romantischen Vision der Nation wurzelt, und die Rolle der katholischen Kirche bei der Einigung des Landes hervorhob. Dieser historische Kontext ist maßgeblich für das Verständnis der gegenwärtigen politischen Lage Polens.
Polen nach 1989: Zwischen nationaler Freiheit und individueller Freiheit
Zentral für diese Entwicklung, so Reiter, seien die Jahre 1989 und 1990, da Polen in diesen eine „doppelte Unabhängigkeit“ erlangte: zum einen als demokratischer Staat, zum anderen die Sicherung der individuellen Freiheit des Einzelnen. Die Verknüpfung von persönlichem Streben und nationalem Wohlergehen stellte einen bedeutenden Wendepunkt für sein Land dar. Reiter illustrierte diese Entwicklung und die daraus resultierenden Herausforderungen mit den Worten von Oscar Wilde: „Es gibt nur zwei Tragödien im Leben: Die eine ist, nicht zu bekommen, was man will, und die andere, es zu bekommen.“
Wahl von Aleksander Kwaśniewski 1995: „Entscheiden wir uns für die Zukunft“
Nur wenige Jahre später, 1995, gewann Aleksander Kwaśniewski mit dem Slogan „Entscheiden wir uns für die Zukunft“ die polnische Wahl und markierte damit einen grundlegenden Trend hin zu einer zukunftsorientierten und europanahen Politik. Dieser Wandel zeigte sich auch im mangelnden öffentlichen Interesse am Besuch des deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog 1994, der anlässlich des 50. Jahrestages des Warschauer Aufstandes nach Warschau kam, um eine Rede zu halten und im Namen des deutschen Volkes um Vergebung zu bitten. Die polnische Bevölkerung blickte stärker in die Zukunft, als dass sie die Vergangenheit aufarbeiten wollte.
Bereits zehn Jahre nach Herzogs Besuch, im Jahr 2004, war der Warschauer Aufstand zum Symbol der polnischen Popkultur geworden, die primär durch die jüngere Generation getragen wurde. Die Auseinandersetzung mit der Frage „Wer sind wir?“ war nun auch mit einem Blick in die eigene Vergangenheit verbunden.Diese Entwicklung spiegelte einen allgemeinen Trend wider: Ähnliche Fragen wurden in den liberalen Demokratien weltweit gestellt, sei es in den USA, mit Samual P. Huntingtons hochrezipierten Buch „Who Are We?: The Challenges to America's National Identity“ oder in Tschechien und Ungarn.
Der globale Charakter der Identitätsfrage
Janusz Reiter betonte, dass in diesem Kontext das Jahr 2024 besonders interessant sei, da mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung dieses Jahr zu den Wahlen schreiten werde. In vielen dieser Wahlen, spiele die Frage der nationalen Identität eine große Rolle. Beispielhaft dafür seien auch die Wahlen in den demokratischen Staaten außerhalb der westlichen Sphäre, so unter anderen Indien, Brasilien oder Südafrika. Diese Länder haben gemeinsam, dass – um in den Worten von Francis Fukuyama zu bleiben – die Wahlen eine globale Demokratie-Krise widerspiegeln, da die Toleranz gegenüber unterschiedlichen Meinungen und die Wahrung individueller Rechte auf dem Spiel stehen. In vielen Fällen hat der Nationalismus den Aufstieg von Bewegungen vorangetrieben, die die liberalen Demokratien in Frage stellen, die Eliten anprangern und den nationalen Isolationismus fördern. Dies stellt eine erhebliche Gefahr für die europäische Einheit dar.
Das europäische Projekt gegen Nationalismus verteidigen
Für Polen und andere osteuropäische Länder war der Beitritt zur Europäischen Union ein Erfolg, markierte aber auch den Beginn eines neuen Kapitels, welches von der Frage dominiert war, welchen Mehrwert die individuelle nationale Perspektive im neuen europäischen Kontext habe. Anfänglich war der Diskurs über den Beitritt der osteuropäischen Staaten von der Sorge geprägt, wie sich ein Übergreifen nationalistischer und „rückständiger“ Tendenzen auf Westeuropa zu verhindern ließe. Reiter betonte, dass wenn gleich die Nationalisten in Osteuropa „in einem anderen Gewand“ auftreten mögen, die heutige Situation und der Aufstieg rechter Parteien deutlich zeige, dass die Krise der liberalen Demokratien ein gesamteuropäisches Problem sei.
Die Erfahrungen und Perspektiven der häufig als rückständig abgetanen osteuropäischen Länder sind heute relevanter denn je. Reiter stellte fest: „Wir hatten ein besseres Gespür für die Bedeutung von Sicherheit, gesellschaftlicher Verwundbarkeit und das Erkennen von Feinden.“
Hoffnung für das europäische Projekt
In seinem Schlusswort ging Janusz Reiter auf den zunehmenden Nationalismus und seine Auswirkungen auf die europäische Zusammenarbeit ein. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine sei ein Beispiel für den Kampf zwischen aggressivem Nationalismus (Russland) und liberalem demokratischem Patriotismus (Ukraine). Dieser Konflikt gibt Aufschluss darüber, wie nationale Identität in einigen Fällen eine positive Rolle dabei spielen kann, eine Nation zusammenzuhalten und sie für liberal-demokratische Ideen empfänglich zu machen.
Abschließend rief Janusz Reiter die europäischen Länder dazu auf, angesichts des zunehmenden Nationalismus die Zusammenarbeit zu suchen und die demokratischen Werte zu verteidigen. Er sprach sich dafür aus, die nationale Identität mit der liberalen Demokratie zu verbinden, um ein geeintes und widerstandsfähiges Europa zu schaffen. Die Zukunft der liberalen Demokratie werde davon von unserer Fähigkeit abhängen, aus der Geschichte zu lernen und unterschiedliche Erfahrungen und Perspektiven zu respektieren.
Im Anschluss der Rede diskutierte Janusz Reiter mit Prof. Dr. Markus Kotzur und Dr. Deborah Cuccia.