Prof. em. Dr. Dr. h.c. Hartmut Kaelble

EUROPA

Wohin soll die Reise gehen?

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Hartmut Kaelble ist emeritierter Professor für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hatte zwischen 2004 und 2009 außerdem eine Gastprofessur am Europakolleg Brügge inne und war Mitglied des Auswahlkomitees Geschichte des Europäischen Forschungsrats. Bis 2009 war er zudem Mitdirektor des Zentrums für vergleichende Geschichte Europas.

Kaelble forscht im Besonderen zur vergleichenden Sozialgeschichte Europas sowie zur Geschichte der europäischen Integration. Er hat diesbezüglich sowohl als Herausgeber als auch als Autor an zahlreichen Publikationen mitgewirkt und jüngst etwa die Werke „Der verkannte Bürger: Eine andere Geschichte der europäischen Integration seit 1950“ und „Eine europäische Gesellschaft? Zur Sozialgeschichte Europas vom 19. bis ins 21. Jahrhundert“ veröffentlicht.

RAUM – Wer oder was gehört zu Europa?

Wo fängt Europa an, wo hört Europa auf?

Wo immer Europäer Europa sehen.

Europa ohne Italien wäre ...

Müssen wir immer über Amputationen nachdenken? Eine Amputation reicht.

Europa ohne Deutschland wäre ...

Solange Deutschland zivilisiert ist, kommt Europa nicht ohne es aus und umgekehrt.

Wo in Europa möchten Sie leben?

Lieber nicht nur an einem Ort. In Europa kann man mehrere Heimaten haben.

Mehr als nur ein Raum ohne Binnengrenzen?

☒ Ja, weil zwar ein Europa ohne Binnengrenzen eine enorme Errungenschaft ist, aber Europa darüber hinaus auch ein Raum gemeinsamer Werte und eines Zusammengehörigkeitsgefühls ist.

☐ Nein, weil ...

☐ Vielleicht, weil ...

SOUVERÄNITÄT – Wer hat in Europa das Sagen?

Was sind die größten Stärken der Europäischen Union?

Weiterhin die klassischen, durchaus aktuellen Stärken: Vermeidung von Kriegen in Europa, Wohlstand auch für ärmere Regionen, Sicherung von Demokratie, einigermaßen gleiche Augenhöhe zwischen größeren und kleineren Ländern, aber auch Europa eine Stimme in der Welt zu geben durch Multilateralismus ohne globalen Führungsanspruch.

In welchem Bereich wünschen Sie sich mehr, in welchem weniger Europa?

Mehr europäische Zusammenarbeit, wo sie nötig ist und ihr Sinn verständlich gemacht werden kann. In welchem Feld ist die europäische Zusammenarbeit wirklich zurückgenommen oder gar beendet worden? In meinen Augen stehen wir in der Regel vor der Wahl zwischen mehr und anderem Europa.

**Was würden Sie als erstes tun, wenn Sie EU-Kommissionspräsident*in wären?**

Meine Versprechen so umsetzen, dass sie von den europäischen Bürgern verstanden werden können.

Was verabscheuen Sie in der Europapolitik am meisten?

Ich verabscheue gar nichts, halte nur Vieles für veränderungsbedürftig.

**Stellen Sie sich vor, Sie sind US-Präsident*in: Was erwarten Sie von Europa?**

Eigenständigkeit, Kooperation, keine Rivalität.

IDENTITÄT – Was meint Europa?

Welche Europäerin oder welchen Europäer möchten Sie gerne persönlich kennenlernen?

Bevorzugt Personen, die etwas mit Europa anfangen können und wollen, dazwischen aus Neugierde aber durchaus auch einen ansprechbaren Leaver.

Ihr Vorschlag für ein Leitmotiv für die Europäische Union der Zukunft?

Brauchen wir nochmals ein Leitmotiv nach den schwierigen Erfahrungen mit „Einheit in der Vielfalt“, die die meisten nicht so recht verstanden oder kalt ließ?

Welches Kunstwerk von europäischer Bedeutung fällt Ihnen spontan ein?

Auf einem Platz ganz hinten die Europabauten in Brüssel.

Ihr Vorschlag für eine Erkennungsmelodie der Europäischen Union?

So schlecht finde ich die Europahymne nicht, auch wenn man sich einen anderen Bearbeiter der Komposition Beethovens gewünscht hätte.

Ohne die folgenden drei Dinge wäre Europa für mich nicht Europa:

1. Heute nicht mehr ohne die Europäische Union, auch wenn sie mit ihren Vorgängern erst rund siebzig Jahre alt ist.

2. Nicht ohne einen Sinn für europäische Eigenständigkeit, auch wenn sie mit Offenheit für andere Kulturen verbunden sein sollte und auch war.

3. Nicht ohne den engen Austausch mit Europäern aus anderen Ländern.

Und ganz zum Schluss eine kleine Variation zu Goethe: Wohin würde Sie Ihre ganz persönliche ‚Europäische Reise‘ führen und wen nähmen Sie mit?

Ich denke, Goethes Italienreise ist nicht wiederholbar und sollte auch weniger eine Europareise, als eine Reise in die Antike sein. Meine Phantasie-Europareise würde ich mit bestimmten Persönlichkeiten aus Frankreich, Italien, Polen, Ungarn, Tschechien, Schweden, den Niederlanden, Luxemburg und Großbritannien machen (die Namen spielen hier keine Rolle) und jeden bitten, an einem ausgesuchten Ort das Europa seines Landes vorzustellen, mit möglichst engen Gesprächen mit Bürgern. Am Ende ein Austausch mit Autoren von Europereisebüchern wie Geert Mak oder Magnus Enzensberger.