Impulse für eine europapolitische Zukunftsagenda
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Eine europäische Identität zu behaupten, ohne dass diese im (Er-)Leben der Unionsbürger:innen empirisch belegbar ist, wäre dem Integrationsprojekt eher abträglich. Reflexionen über die Möglichkeit europäischer Identität müssen im Rahmen der Souveränitätsdebatte erfolgen und auf die Souveränitätsfrage hin bezogen werden.
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Die Legitimationsgrundlagen der Europäischen Union müssen neu verhandelt werden. Fragen von Raum, Souveränität und Identität sollten hierbei für politische und gesellschaftliche Diskurse zentrale Orientierungspunkte bieten. Denn der vermeintlich akzeptanzerleichternde Rückzug auf eine funktionale Integrationslogik (Marktintegration) mag angesichts wachsender Europaskepsis attraktiv erscheinen, entfremdet aber letztlich die Unionsbürger:innen vom Integrationsprojekt. Anstatt die Legitimationsfrage in der vermeintlich unpolitischen Schwebe zu halten, bedarf es strittiger und zugleich engagierter Ausein- andersetzungen über die Geltungsbereiche (Raum), die Handlungsfähigkeit (Souveränität) und Werte (Identität) Europas.
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Der europapolitische Diskurs muss sich insbesondere der Souveränitätsfrage stellen, die den Dreh- und Angel- respektive Ankerpunkt des Integrationsprozesses bildet. Europäische Souveränität spielt vor allem auf eine äußere, realpolitische Unabhängigkeit gegenüber anderen geopolitischen Akteuren, nicht jedoch auf eine nach innen gerichtete Kompetenz der Europäischen Union im Verhältnis zu ihren Mitgliedstaaten an. Anstatt eine Souveränität der EU lediglich zu behaupten, müssen deshalb Wissenschaft und Politik sehr viel präziser herausarbeiten, was mit „strategischer Souveränität“ der Europäischen Union gemeint ist, wie diese sich von bloßer strategischer Autonomie unterscheidet, welcher Kompetenzen die Union zur Erreichung strategischer Souveränität bedarf und ob damit nicht letztlich doch auch eine Veränderung des Souveränitätsgefüges im Innenverhältnis verbunden sein muss.
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Europa erlebt derzeit eine Identitätskrise, weil überkommene verbindende Erzählungen offenbar nicht (mehr) tragfähig sind. Diese sind für das alltägliche (Er-)Leben Europas durch die Unionsbürger:innen aber von größter Bedeutung. Um die fortschreitende Erosion des europäischen Integrationsprojekts aufzuhalten, braucht es also neue gemeinsame Erzählungen, die trotz Diversität und Pluralität das Potential für eine überzeugte Identifikation mit Europa und seinen Werten bieten. Dies ermöglicht neue Integrationsdynamiken und damit letztlich auch neue Debatten über die Frage der Souveränität.
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Für die Genese einer europäischen politischen Öffentlichkeit sind Fragen des Raumes konstitutiv. Sie sollten sich jedoch nicht auf eine geographische Abgrenzung gegenüber Nicht-Europa beziehen, sondern für die positive Bestimmung eines „imaginierten Raums“ der gemeinsamen Werte und Normen Europas genutzt werden. Solche Bestimmungsversuche werden ohne Frage (fruchtbare) Prozesse des Bestreitens provozieren (contestations im Sinne von A. Wiener). Diese mögen auf den ersten Blick riskant erscheinen, sind für die Genese einer europäischen politischen Öffentlichkeit aber genauso unabdingbar wie für den oft behaupteten, aber längst noch nicht eingelösten spill over von der wirtschaftlichen zur politischen Integration